Wenn Tante Emma das wüsste
- André Maaß
- 12. Juli 2022
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Juli 2022

Im Örtchen südlich von Hamburg, in dem ich aufgewachsen bin, gab es einen kleinen Tante-Emma-Laden namens von Schassen. Ich erinnere mich genau an die deckenhohen Holzregale, den Tresen, der sich über die gesamte Länge des Ladens erstreckte und die liebenswerte Frau von Schassen, die alle mit einem freundlichen "Guten Tag" begrüßte. Für jeden hatte sie ein nettes Wort und für Kinder schon mal eine kleine Nascherei übrig. Der Laden war eine Art Treffpunkt des Dorfes und jeder Dörfler kam gern dorthin. Das lag nicht an der Ausstattung des Geschäfts oder an den besonders günstigen Schnäppchen. Es gab keine knallig roten Preisschilder und keine Regalreihen, in denen man schon beinahe ein Navi braucht. Dafür duftete es nach frischen Backwaren, Gewürzen, Blumen und Obst, wenn man reinkam. Frau von Schassen freute sich auf ihre Kunden und begrüßte sie wie alte Freunde. Sie war ein Stück weit Herz und Ohr für die Menschen des Dorfes. Wenn jemand gerade knapp bei Kasse war oder sein Geld zu Hause vergessen hatte, konnte man auch mal bei ihr "anschreiben lassen". Natürlich war es dann Ehrensache, das Geld schnellstmöglich vorbeizubringen. Darauf vertraute sie. In diesem alten Tante-Emma-Laden wurde ganz selbstverständlich alles gelebt, was Kunden zufrieden macht.
Frau von Schassen war keine Theoretikerin
Ich weiß nicht, was Frau von Schassen heute dazu sagen würde, wie kleine und große Unternehmen mit den Menschen umgehen, die ihnen jeden Tag das Geld in die Kassen spülen. Obwohl - ich glaube, ich weiß es doch: "Dat is allens neemodisch Tüdelkraam." Und damit hätte sie durchaus recht. Es beginnt schon damit, dass der Kunde gar kein Kunde mehr ist, sondern erst einmal in "customer" umgetauft wird. Das klingt wesentlich professioneller. Als nächstes stellt sich eine Firma in Meetings vor, wie der customer wohl agiert. Sie fantasieren eine customer journey zusammen und wollen auf diese Art erkennen, wie sich der Geldbringer verhält, bis er das Produkt schlussendlich gekauft hat. Witzig ist es dann, in ausdrucks- und verständnislose Gesichter der Unternehmensentscheider zu schauen, wenn sich das Kundenvieh vollkommen anders verhält, als es geweissagt wurde. Frau von Schassen hätte einfach ihre Kunden gefragt, wie sie dieses oder jenes finden, welches Produkt sie bevorzugen und entsprechend ihr Angebot umgestellt. Weil sie zuhören konnte. Und warum? Damit die Kundschaft zufrieden ist. Nie im Leben hätte sie sich abends an den Küchentisch gesetzt und bei Tee und Mettwurstbrot auf einen Zettel gemalt, wie sich Frau Schnedermann verhalten würde, wenn sie als Kundin den Laden betritt. Es wäre ihr vollkommen gleichgültig, welchem soziodemografischen Cluster Frau Schnedermann angehört. Wenn die Kundin Mehl von der Lieblingsmühle haben möchte, dann bekommt sie das. Das nennt man gesunden Menschenverstand. Sie hat sich keine theoretischen Gedanken gemacht, sondern praktisch gehandelt, damit alle ihren Laden mit einem Lächeln betreten und wieder verlassen.
In die Bewusstlosigkeit kommuniziert
Es würde mir heute großen Spaß machen, mich mit der alten Dame darüber auszutauschen, wie sie das Thema Kundenkommunikation sieht. Wenn ich ihr dann erzählen würde, was heute die Grundsätze für kundenorientierte und wertschätzende Kommunikation sind, hätte sie wohl wieder einen Satz parat: "Höör op, so en Blödsinn to vertellen. Du musst bloot mal mit de Lüüd snacken." Und genau das haben so viele Unternehmen verlernt. Da glaubt ein großes Internetkaufhaus, dass ich ein zufriedener Kunde bin, wenn ich wegen einer Onlinebestellung, acht E-Mails bekomme:
Ihre Bestellung ist bei uns eingegangen
Ihre Bestellung wird in unserer Logistikabteilung zusammengestellt
Ihre Bestellung geht jetzt in den Versand
Ihre Bestellung hat das Versandlager verlassen
Ihre Bestellung ist auf dem Weg zu Ihnen
Ihre Bestellung ist bald da
Ihre Bestellung wurde zugestellt
Wie zufrieden waren Sie mit Ihrer Bestellung?
Ich stelle mir gerade vor, ich sitze in einem Restaurant um die Ecke und bestelle. Der Kellner sagt dann:
Ihre Bestellung ist bei mir eingegangen
Ihre Bestellung wird in unserer Küche bearbeitet
Ihre Bestellung geht jetzt in die Auslieferung
Ihre Bestellung hat die Küche verlassen
Ihre Bestellung ist auf dem Weg zu Ihnen
Ihre Bestellung ist bald da
Ihre Bestellung wurde zugestellt
Wie zufrieden waren Sie mit Ihrer Bestellung?
Das ist Stoff aus dem gute Albträume gemacht sind aber in der Digitalwelt nennt sich das Kundenkommunikation. Die Frage nach meiner Zufriedenheit der Bestellung ist übrigens in Restaurants und Internetkaufhäusern immer gleich. Die Antwort interessiert aber niemanden. Ich denk dann immer: "Stell keine Fragen, auf die du die Antwort nicht hören willst." Hinzu kommen noch permanente Werbemails, nicht selten sogar mehrere an einem Tag. Ich habe großes Glück, dass es nur E-Mails sind. Wenn ich das als Post bekommen würde, bräuchte ich keinen Briefkasten, sondern eine große Tonne vor der Tür. Gerade habe ich gelesen, dass eine Baumarktkette künftig auf Papierprospekte verzichtet. Das finde ich wirklich toll. Allerdings muss einem auch bewusst sein, dass dafür der Mailausstoß erhöht wird. Kostet ja nichts. Nur weil Mails kein Papier verbrauchen, ist es jedoch noch lange keine Rechtfertigung, mich als Kunden damit vollzuspammen. Das hat nicht das geringste mit guter Kommunikation zu tun. Spielt aber auch keine Rolle, denn um den Kunden geht es schon lange nicht mehr. Wir werden in die Bewusstlosigkeit kommuniziert. Von Zufriedenheit spreche ich gar nicht erst. Stell dir mal vor, dieser Mail-Wahnsinn der Unternehmen hätte ein Ende. In deinem Postfach wäre es wie in einem Western. Trockenes Gestrüpp weht über die Straße, irgendwo quietscht ein Schild im Wind und ein paar Geier kreisen in der Luft.
Wehe, wenn du dann wirklich mal mit jemandem sprichst
Neulich hat mich mein Mobilfunkanbieter angerufen. Zum siebten Mal. Ich bin ihm ja sooooo wichtig. Er möchte, dass ich wirklich gut aufgehoben und mit den besten Leistungen versorgt bin. Böse Zungen behaupten, dass diese fast schon elterliche Sorge um mein Wohlbefinden an meiner Kündigung liegt, die ich geschickt habe. Zwei Jahre lang gehe ich dem Anbieter vierspurig am Arsch vorbei. Aber wehe, ich kündige. Plötzlich werde ich zum absoluten VIP-Kunden befördert und man fühlt sich persönlich betroffen, dass ich den Anbieter verlassen möchte. Dieses Prinzip ist ja inzwischen schon von vielen Unternehmen bekannt. Nur wenige haben bemerkt, dass Bestandskunden das Überleben einer Firma sicherstellen und verhalten sich entsprechend. Nun ist also zum wiederholten Mal ein Mitarbeiter meines derzeitigen Mobilfunkers an der Strippe. So richtig höre ich ihm nicht zu. Der Text, den er da gelangweilt runterlabert, ist exakt der gleiche, den ich bei den sechs Anrufen vorher bereits bekommen habe. Irgendwann unterbreche ich ihn und sage ihm freundlich, dass ich bereits bei den letzten Gesprächen zum Ausdruck gebracht habe, dass ich an der Kündigung nichts ändern werde. Auf die Frage, ob es in der Firma niemanden gibt, der die Fähigkeit des Zuhörens verinnerlicht hat, kam nur ein kurzes Schweigen. An der Stelle zolle ich dem "Telefonprofi" Respekt, denn er macht mit seinem Gesprächsleitfaden stoisch und unbeeindruckt weiter. Kurz flammt in mir das Verlangen auf, die Titelmusik von Pippi Langstrumpf oder einen anderen Smash-Hit zum Besten zu geben, damit er aus seinem sprachlichen Wachkoma gerissen wird. Plötzlich kommt die magische Frage, die mir signalisiert, dass ich gemäß seines Leitfadens jetzt an der Reihe bin: "Wie klingt das für Sie?". Das ist meine Gelegenheit, nach Minuten seines Floskelaufsagens endlich ins Gespräch einzusteigen. Also sprach ich: "Wie das klingt? Offen gestanden so, als wenn Sie mir überhaupt nicht zuhören und sich nicht für fünf Cent für meine Anliegen interessieren. Kann das sein?". Das war dann der Moment, in dem sein Gesprächsleitfaden am Seitenende angekommen sein muss und der Mitarbeiter feststellte, dass es keine weitere gibt. In mir ging das Kopfkino los. Ich sah vor mir ein Gesicht mit leeren Augen, der Kopf sinkt nach links zur Seite, aus den Ohren steigt leichter Rauch und auf der Stirn blinkte das Wort "Error". Offenbar war er seines gesamten Kommunikationspotenzials beraubt. Er legte einfach auf.
Von Tante Emma kann man noch viel lernen
Was bleibt? Eine Ernüchterung. Auf dem Weg zu mehr Kundenorientierung, besserer Kundenkommunikation und noch besserem Service sind die Menschen, denen all das gewidmet sein soll, leider von der Bühne gefallen. Viele Strategen in Unternehmen haben eine Glaubenskrise. Sie glauben, dass sie wüssten, was für ihre Kunden das Beste ist. Sie stellen sich einen theoretischen Käufer vor und überlegen, wie er agiert und kommuniziert, anstatt einfach dem realen Menschen zuzuhören. So wie es Tante Emma aka Frau von Schassen früher gemacht hat. Sie war aufmerksam und hat Bedarf erkannt. Sie wusste genau, wie sie ihre Kunden zu behandeln hatte. Nämlich so, wie sie behandelt werden wollen. Nicht wie es ein Algorithmus, statistische Auswertungen oder customer journeys aussagen. Sie war eine wahre Dienstleisterin. Auf Augenhöhe, mit Empathie und gesundem Menschenverstand. Eine dicke Scheibe davon würde einer großen Zahl von Firmen mehr als guttun. Kundenorientierung ist kein Schreibtischprojekt, sondern etwas, das wirklich gelebt werden muss. Ich rette auch keinen Ertrinkenden, indem ich einen Vortrag über Rettungsringe ausarbeite. Schöne bunte Bilder mit epischen Sinnsprüchen als Unternehmensziele über dem Kopierer bringen rein gar nichts, wenn man an den Menschen vorbeiarbeitet. Der britische Historiker und Wirtschaftsbuchautor Cyrill Northcote Parkinson sagte in seinem nach ihm benannten Gesetz, dass sich Arbeit in genau dem Maße ausdehnt, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht. Frei nach diesem Gesetz: Die Unwichtigkeit der Kunden dehnt sich in genau dem Maße aus, wie Unternehmen das Thema Kundenorientierung in den Fokus nehmen. Wenn Tante Emma das wüsste, würde sie sich im Grabe umdrehen und Frau von Schassen würde sagen: "Tinnef, Tüünkram und Tand."
Fröhlichst
Dein André
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