Mama, liebst du eigentlich deine Arbeit?
- André Maaß

- 11. Sept. 2022
- 5 Min. Lesezeit

In vielen Seminaren arbeite ich mit Schülern ab Klasse 9. Diese jungen Hasen machen gerade die ersten Schritte, sich mit dem Berufsleben auseinanderzusetzen. Die Vorstellungen vom Berufsleben sind da noch ein bisschen verquer. In den allermeisten Fällen spielt das Thema Geld eine sehr große Rolle. Witzigerweise soll das oft in direktem Zusammenhang mit wenig Arbeit stehen. Eine Wunschvorstellung, von der sich wohl auch viele Erwachsene nicht freimachen können. Nun ja, wir kennen die Realität. Gerade momentan ist es so, dass viele nicht einmal mehr mit nur einem Job auskommen. Um eine Familie über Wasser halten zu können, ist der Zweit- oder sogar Drittjob keine Utopie mehr. Wir reden hier übrigens nicht vom Wohlstand, der durch die zusätzlichen Arbeitsstellen erreicht werden soll. Es geht ums ganz normale Leben, das hier finanziert werden muss. Darüber macht sich ein Schüler jedoch keine Gedanken, wenn er sich langsam mit den Themen Ausbildung und Beruf auseinandersetzt. Sehr spannend fand ich die Aussage eines Teilnehmers in meinem Seminar. Es ging um das Thema Bewerbung. Er sagte einen Satz, über den ich lange nachgedacht habe: "Mir ist es eigentlich egal, was ich mache. Hauptsache ich verdien' damit eine Menge Geld."
Mir war Geld auch mal das Wichtigste
Wenn man die Aussage des Schülers mal ein wenig nachwirken lässt, könnte man schon den Kopf schütteln. Aber sind wir ehrlich. Wer von uns Erwachsenen hat früher nicht auch so gedacht? Geld spielte eine große, wenn nicht die wichtigste Rolle. Dazu gehörte ich auch, weshalb ich die Wortmeldung des Schülers sehr gut nachvollziehen kann. Geld war früher nicht mein Freund. Im Grunde waren meine Gehälter ein durchlaufender Posten und es gab sogar eine Zeit, in der ich finanziell echt in Not war. Das beschönige ich nicht und gebe vor allem niemandem die Schuld daran. Ich hab' das ganz allein geschafft. Heute ist Geld etwas, das natürlich sehr beruhigend wirkt. Da muss mir auch niemand damit kommen, dass andere Sachen im Job ja viel wichtiger sind. Die Sprüche sind aber auch hinlänglich bekannt: "Du musst tun, was du liebst." Auch das stimmt. Der Satz ist der Gegenpol zu der Aussage des Schülers. Beides ist weder richtig noch falsch. Bei der Suche nach einem geeigneten Beruf gilt es also, einen guten Mittelweg zu finden. Eine Herausforderung, die ein Neuntklässler wohl kaum allein meistern kann. Sowas schaffen ja viele Erwachsene nicht einmal. Das ist wiederum eine Tatsache, die sich ein Teenager nicht vorstellen kann. Die Reaktionen der Schüler sprechen da eine deutliche Sprache, wenn ich auf das Thema komme. Ich lade sie dann auf eine Frage ein. Wenn sie abends vielleicht mit den Eltern beim Abendessen sitzen - ja, das kommt sogar noch vor - sollen sie einfach mal eine Frage stellen: "Mama, liebst du eigentlich deine Arbeit?".
Da fließen auch schon mal Tränen
Es gibt tatsächlich Schüler, die zu Hause diese Frage stellen. Manche von ihnen schreiben mir dann eine E-Mail und berichten, was diese fast schon banal klingende Frage ausgelöst hat. Eine Schülerin schrieb mir, dass ihrer Mutter in genau diesem Moment Tränen in die Augen schossen. Es entwickelte sich ein Gespräch, in dem die Mutter von ihrem Arbeitsalltag berichtete. Sie gab zu, dass ihr dieser Job nicht im Geringsten Spaß macht. Jeden Morgen geht sie mit einem fiesen Gefühl im Bauch dorthin und leidet die 6 Stunden, die sie pro Tag als Arbeitszeit hat. Die Tätigkeit ist genau das Gegenteil von dem, was ihr Freude bereitet. Zudem ist die Stimmung unter den Kollegen schlecht. Hinter vorgehaltener Hand wird sie immer nur als Gelegenheitsarbeiterin bezeichnet, weil sie nicht in Vollzeit da ist. Jeden Tag tritt sie wieder gegen sich selbst an, wenn sie den Weg zur Firma einschlägt. Die Schülerin fragte ihre Mutter dann, warum sie das macht. Die Antwort der alleinerziehenden Mutter war erschütternd: "Ich mache das nur, damit wir uns unser Leben hier leisten können. Es geht nur darum, dass Geld reinkommt." Wieder fließen die Tränen, denn der Mutter war durch die Frage der Tochter klargeworden, wie schlimm es ist, einen Job nur auszuüben, damit man überleben kann. Eigentlich hatte sie einen Traum. Sie wollte schon immer ein kleines Café eröffnen. Daran hätte sie Freude gehabt, wäre jeden Tag mit Spaß und voller Energie zur Arbeit gegangen. Vermutlich hätte sie nicht einmal gemerkt, wie Zeit vergeht. Stattdessen ist sie in irgendeiner Maloche gestrandet. Ende vom Lied: Sie fährt mit Bauchschmerzen und Frust hin. Nach Hause kommt sie dann mit Migräne, Zorn und Erschöpfung. Das ist ein Hamsterrad, das irgendwann am Anfang mal nach einer Karriereleiter aussah. Heute weiß sie, dass diese Leiter zusätzlich noch an der falschen Wand lehnt.
Krankheit ist oft die logische Folge
Wie lange kann ein Mensch ertragen, sich selbst zu verleugnen? Der eine länger, die andere nicht so lang. Die beinahe automatische Konsequenz ist Krankheit. Körperlich und/oder seelisch. Gerade gab es wieder eine Studie, dass in Deutschland psychische Erkrankungen stark zugenommen haben. Ich bin davon überzeugt, dass viele Fälle auf das berufliche Umfeld zurückzuführen sind. Dieter Lange, Autor und Trainer, sagte einmal: "Wer Leistung will, muss Sinn bieten". Genau dort liegt oft das Problem. Ganz viele Menschen sehen gar keinen Sinn in ihrer Arbeit. Es ist gefühlt mehr eine Beschäftigungstherapie. In einem Job gefangen zu sein, der zu 100% gar nicht zu einem passt, kenne ich nur zu gut. Auch mich hat es krank gemacht. Wenn ich an das Mutter-Tochter- Gespräch denke, habe ich die Vermutung, dass es der Mutter auch bald so gehen wird. Oder es ist schon so weit. Wenn man jeden Tag stundenlang etwas tun muss, das sich völlig falsch und sinnentleert anfühlt, kann das nicht gut ausgehen. Diese Mutter ist nur ein Beispiel von vielen Geschichten, die ich als Rückmeldung immer wieder bekomme. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht und sich die Menschen bei der Arbeit anschaut, der wird allzu häufig entdecken, dass es ein weit verbreitetes Phänomen ist. In meinem Job habe ich das Glück, dass ich gefühlt jeden Tag spielen gehen darf. Aber auch das habe ich erst seit gut 10 Jahren. Davor war ich einer von den vielen Menschen, denen es genau anders herum ging. Dabei liegt es häufig gar nicht am Job oder an der Firma. Es ist viel einfacher: Job und Mensch passen einfach nicht zusammen. Die Anforderungen des Arbeitsplatzes laufen konträr zu den Fähigkeiten, Stärken und Leidenschaften des Menschen.
Nicht mit dem Finger zeigen, sondern die Hand reichen
Ich denke gerade wieder an die Kids der neunten Klasse, mit denen ich im Seminar gearbeitet habe. Sie stehen stellvertretend für die Generation. Ihre Herausforderung ist es, sich einerseits im undurchsichtigen Arbeitsmarkt zu orientieren. Andererseits müssen sie erst einmal herausfinden, wer sie sind, was sie ausmacht, welche Stärken und Potenziale sie haben. Wie soll das ein 15jähriger Mensch bewältigen? Da hilft es auch nichts, auf dieser "Generation Z", wie sie genannt wird, herumzuhacken. Ja, sie haben stark unter den aktuellen Entwicklungen gelitten und tun es noch immer. Statt mit dem Finger auf sie zu zeigen, sollten wir "Alten" ihnen lieber die Hand reichen. Ich hab damals schon keine Unterstützung von meinem Vater bekommen. Das muss ich ja nicht wiederholen. Abwinken und alle über den Vorurteilskamm zu scheren ist leicht. Bringt aber niemandem etwas. Bei meinen Seminaren mit Schülern kommt es häufig zu Unterhaltungen, in denen mir bewusst wird, wie hart es die jungen Leute in den letzten zwei Jahren getroffen hat. Die Schäden können wir jetzt noch gar nicht absehen. Wenn sich jeder mal die Mühe machen würde, sich etwas mehr mit ihnen zu beschäftigen, dann erfährt man ihre Sorgen, Ängste und Befürchtungen. Für uns Erwachsene ist es schon eine riesige Herausforderung, das Leben zu wuppen. Obwohl auch wir Lebenslaien sind, haben wir einige Jahre an Erfahrung mehr im Rucksack. Warum nehmen wir dann nicht diese Erfahrungen und teilen sie. Ich weiß, teilen ist 2022 ein bisschen aus der Mode geraten. Aber vielleicht gibt es ja auch da wieder den einen oder die andere, die hier nicht mit dem Finger auf die jungen Menschen zeigen, sondern die Hand reichen. Warum? Damit ihnen nicht das Gleiche passiert, wie vielen von uns: Mit großen Schritten in irgendeinen Frustberuf, der sie auf die Dauer der Zeit krank macht.
Fröhlichst
dein André








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