Mit 49 nochmal schwimmen gelernt
- André Maaß

- 1. Aug. 2022
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Sept. 2022

Also nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht: Ich kann schwimmen. Schon bevor ich in die erste Klasse kam, prangten auf meiner Badehose das legendäre Seepferdchen und das Freischwimmerabzeichen. So selbstverständlich, wie das für uns als Kinder damals war, so selten scheint das heute zu sein. Es ist erschreckend, wie viele Menschen nicht schwimmen können. Gleichgültig ob Kind oder Erwachsener. Wichtiger ist es augenscheinlich geworden, im Freibad am Beckenrand zu posen, die Haare schön zu haben, und vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht, mal mit den Füßen im Wasser rumzuspaddeln, während man auf dem Rand sitzt. Ende. Nun ja, nicht mein Zirkus, nicht meine Affen. Ich jedenfalls gehe gern schwimmen. Das ist erst in den letzten Jahren wieder bei mir aufgekommen. Davor hatte ich schlicht keine Lust und mir war meine Figur auch irgendwie unangenehm. So bekloppt war ich mal. Erst durch meine Frau habe ich die Lust am kühlen Nass wiederentdeckt und bin jedes Jahr stolzer Besitzer einer Saisonkarte des örtlichen Freibads. Und ich nutz' die auch. Weil es schön ist, durch die Fluten zu toben. Es gibt mir ein gutes Gefühl, etwas für mich getan zu haben. Fitnessstudio geht auch in der kalten Jahreszeit wieder.
Ich muss echt komisch ausgesehen haben
Nun springe ich also beinahe jeden Tag in die Fluten und das ist echt herrlich. Zugegeben, an heißen Tagen ist es einerseits zwar sehr erfrischend. Andererseits findest du aber auch vor lauter Leuten kein Wasser mehr. Da lob' ich mir die Tage, an denen es bewölkt ist und die Temperaturen auch nicht der Sahara ähnlich. Dann ist es nämlich sehr viel leerer und man kann friedlich seine Bahnen ziehen. Ich hätte mich dabei sehr gern einmal von außen beobachtet. Warum? Weil ich dabei wohl ziemlich armselig ausgesehen haben muss. "Bahnen ziehen" trifft es an der Stelle auch nicht unbedingt. Es hatte mehr was von Treibholz, was ich im Wasser dargeboten habe. Im vorletzten Blogbeitrag hatte ich ja schon einmal angedeutet, dass mich meine Frau regelmäßig und sogar mehrmals überholt hat. Sie hat eine super Technik und jahrelange Übung darin. Im Vergleich zu mir ist sie auf Profiniveau. Während ich wohl in der Ehrendivision einer Freizeitmannschaft noch auf dem letzten Platz rumdümpeln würde. Nennen wir das Kind mal beim Namen: Mein Schwimmstil könnte man eher als "über Wasser bleiben", mit ein bisschen Vorankommen bezeichnen. Zudem habe ich das berüchtigte Frisurschwimmen praktiziert. Also Kopf raus aus dem Wasser. Nicht, weil ich meine Haare schonen wollte. Es ging mir um die Kontaktlinsen, die ich trage. Deshalb vermied ich es immer, den Kopf unterhalb der Wasseroberfläche zu halten. Das hätte man mal filmen sollen. Die Aufnahme müsste dann in doppelter Geschwindigkeit abgespielt werden und dazu die Musik von der "Benny Hill Show". Vielleicht hast du jetzt ein ungefähres Bild. Spannender Weise habe ich das selbst so gar nicht wahrgenommen. Ich habe immer gedacht, ich schwimme recht zügig.
Alles wieder auf Null
Der Witz ist: Ich habe echt gedacht, ich kann gut schwimmen. Meine Frau holte mich dann erst einmal aus dieser schrägen Selbstwahrnehmung raus. Sie zeigte mir, wie ich da durch das Wasser spaddelte. Das hat mich schon etwas erschreckt. Nun ja, wenn man den Spiegel vorgehalten bekommt, ist das eben nicht immer nur schön. Aber ich war jetzt in der Realität angekommen und hatte ein Bewusstsein für das, was ich da die ganze Zeit gemacht und vor allem falsch gemacht hatte. Als erstes besorgten wir mir eine richtige Schwimmbrille. Für den Kurzsichtigen natürlich mit Sehstärke. So konnte ich meine Kontaktlinsen ab sofort getrost zu Hause lassen und bin dennoch nicht wie im Nebel herumgetappst. Jetzt konnte ich mich auch im Wasser ganz anders verhalten und musste nicht ständig vorsichtig sein. Ist übrigens auch für den Nacken eine echte Erleichterung, wenn man den Kopf beim Schwimmen nicht ständig im Giraffen-Style nach oben recken muss. Mit Schwimmbrille bewaffnet im Wasser angekommen, bekam ich von meiner geheirateten Schwimmtrainerin meine erste Lektion in Technik. Sie zeigte mir, wie Brustschwimmen wirklich funktioniert. Das war eine komplette Umgewöhnung für mich. Was man über 40 Jahre lang falsch gemacht hat, stellt man nicht im nächsten Moment ab. Diese Umgewöhnung hatte mit einigem an geschluckten Wasser zu tun. Vielleicht hätte ich den Stunt erstmal im Babybecken testen sollen. Zudem war jetzt auch Atemtechnik und Rhythmus gefragt. Das musste ich mit einer völlig neuen Abfolge von Arm- und Beinbewegungen koordinieren lernen. Alter Schwede, war das anstrengend. Mir wurde schnell klar, dass mein früheres Rumgehampel im Wasser rein gar nichts mit Schwimmen zu tun hatte. Ich lernte es gerade völlig neu. Nicht lange später machte ich richtige Züge, bei denen ich nicht nur vorankam, sondern Muskeln bemerkte, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie habe. Wow, was für ein Erlebnis. Kein Wunder, dass es mir früher nur wenig Spaß gemacht hat.
Bekannte Wege führen mich nicht an neue Orte
Mir ist schon bewusst, dass all das jetzt nichts mit Glanzleistungen zu tun hat. Für mich hatte es jedoch in vielerlei Hinsicht eine große Bedeutung. Zunächst einmal hat mir die Nummer gezeigt, dass nichts richtiger wird, nur weil man es jahrzehntelang macht. Was ich irgendwann mal gelernt habe, ist nicht in Stein gemeißelt. Die Dinge in meinem Leben und erst recht mich selbst kann und sollte ich jederzeit hinterfragen. Logisch klappt das nicht ständig. Aber Perfektion ist eh verboten. Es lohnt sich immer, zu überprüfen, ob der Weg noch stimmt. Von Zeit zu Zeit ist es nämlich von Vorteil, den ausgetrampelten Pfad zu verlassen und einen neuen Weg zu beschreiten. Klar, ich weiß nicht, wohin er führt, aber dafür kann ich mich auf einem neuen Weg auch nicht verlaufen. Bekannte Wege führen mich nicht an neue Orte. Dieses kleine Schwimmerlebnis hat mir außerdem wieder bestätigt, dass ich in den letzten 10 Jahren seit meinem Burnout gelernt habe, mich immer wieder zu verändern. Damals wäre mir das nicht so einfach gelungen. Ich hätte an alten Gewohnheiten und Vorgehensweisen festgehalten und mich mit Händen und Füßen gegen eine Veränderung gestemmt. Heute bin ich erstaunt, wie einfach es ging, Althergebrachtes loszulassen und mich neu auszurichten. Diese Offenheit, mit der ich von meiner Frau diese für mich neue Schwimmtechnik gelernt habe, hätte ich früher nie gehabt. Darüber hinaus ist mir bewusst geworden, dass eine sehr starke Emotion über die letzten Jahre in mir gewachsen ist: Mut. Mut zur Veränderung und zum Wandel. Mut, die Dinge neu zu betrachten und nicht mehr durch immer dieselbe alte Brille zu sehen. Nicht zuletzt ist mir durch dieses Erlebnis im Freibad bewusst geworden, wie viel Spaß und Freude im Erlernen von Neuem steckt. Es ist nicht das Beherrschen einer Fähigkeit, das unglaubliche Glücksgefühle entfacht. Der Weg dorthin, während ich lerne, macht glücklich. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch wieder gemerkt, wie viel Freude im Scheitern steckt. Ja, ich habe Wasser geschluckt. Ja, ich war hinterher völlig erledigt. Ja, es fiel mir anfangs sehr schwer, die neuen Abläufe hinzubekommen. Die Versuchung war groß, wieder in meinen alten "Stil" zu verfallen. Ich habe mich aber dazu aufgerafft, es weiter zu versuchen. Immer und immer wieder. Nach der Schwimmeinheit, als meine Frau und ich dann noch im Wasser ein bisschen relaxten, fühlte ich pures Glück. Der Dank gilt ihr. Sie hat mir erneut geholfen, einen neuen Weg einzuschlagen. Am Schluss bleibt die Erkenntnis, dass mir die Lust an der persönlichen Entwicklung in Fleisch und Blut übergegangen ist. Vielleicht fragt mich irgendwann mal wieder jemand, warum ich eigentlich so gut drauf bin. Dann werde ich natürlich sagen, er soll mein Buch lesen. Möglicherweise sage ich ihm aber auch: "Lern einfach mal schwimmen."
Fröhlichst
dein André








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