Vom Kulissenschieber zum Hauptdarsteller
- André Maaß
- 3. Apr. 2022
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Apr. 2022

Der Moment ist einfach fantastisch. Du sinkst in den Kinosessel. Auf deinem Schoß steht ein Eimer mit honigsüßem Verpackungsmaterial und neben dir ein Turnierbecher Getränk. Nun dauert es nicht mehr lange, bis sich das Saallicht dimmt und die großen Vorhänge zur Seite gehen. Noch kurz die Werbung überstehen, dem Eisverkäufer eine Chance geben und dann: Film ab. Ja, ich mag Kino. Wobei ich nicht zu den Menschen gehöre, die sich einen französischen Problemfilm mit englischen Untertiteln anschauen würden. Das überlasse ich den Kennern der Szene. Wenn ich mich vor so eine große Leinwand setze, möchte ich enterntaint werden. Dann soll mich der Film in eine andere Welt mitnehmen und durch gewaltige Bilder begeistern, die eben nur ein Kino zu schaffen vermag. Diese Zeit gehört nur mir.
Früher hab ich das halbleere Glas noch umgeschmissen
Die Realität darf dann gern zwei, drei oder vier Stunden brav vor der Tür angeleint auf mich warten. Tut sie auch. Wenn ich dann rauskomme, mache ich sie wieder los und wir gehen nach Hause. Im Film bin ich gerade den Abenteuern, Entscheidungen, Fehlern und Taten der Helden gefolgt. Letztlich weiß ich ja auch schon am Beginn des Streifens, dass am Ende alles gut wird. Ja, ich mag Happy Endings. Das liegt wohl daran, dass ich eine positive Grundeinstellung in mir trage. Du kennst ja den Vergleich mit dem halbleeren und dem halbvollen Glas. Früher war ich derjenige, der sein halbleeres Glas noch umgeschmissen hat. Heute mache ich das halb gefüllte Glas wieder voll. Im Schulterblick würde ich sagen, dass es einer der größten Etappensiege auf meinem Weg der persönlichen Veränderung ist, eine Grundgestimmtheit zu bekommen, die mich morgens gut gelaunt aufstehen lässt und anhält. Früher hatte ich Angst vor dem Tag. Heute hat der Tag Angst vor mir. Damals, zur Zeit meines seelischen und mentalen Tiefpunktes, war ich der unumstößlichen Meinung, dass die ganze Welt gegen mich läuft. In meiner Wahrnehmung, war ich der Einzige, bei dem nichts klappte, der immer Pech hat und dem nie etwas gut wird. "Nichts", "immer" und "nie". Meine ehemaligen Lieblingswörter. Manchmal ertappe ich mich sogar heute noch, wie ich sie gelegentlich benutze. Daran siehst du schon, wie schwer es ist, sie loszuwerden. Doch irgendwann bin ich mir damit selbst auf die Ketten gegangen und wollte das nicht mehr. Es sollte Schluss damit sein, jeden Tag in so einer Motivationsgewitterwolke aufzustehen und in den Tag zu frusten. Wenn ich denn überhaupt die Kraft fand, aus dem Bett zu steigen. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden. Jetzt reichte es.
Aber wie ändert man seine Grundeinstellung?
Die gute und gerechtfertigte Frage ist nun, wie ich das anstellen sollte? Wie verändere ich meine innere Einstellung? Ich wusste ja nicht mal, wo ich sie in mir finden sollte. Irgendwo musste ich einen Anfang machen. Da ich ja sowieso viel Zeit damit verbrachte, in Gedanken versunken durch die Gegend zu fahren, nahm ich mir einmal ein Hörbuch mit. Es handelte sich um einen Klassiker in der Persönlichkeitsentwicklung. Das Buch trägt den Namen "Sorge dich nicht - lebe!" und ist von Dale Carnegie. Darin fand ich simple und sofort umsetzbare Tipps und Handlungsempfehlungen, die bei mir wahre Wunder gewirkt haben. Jedes Mal, wenn ich wieder einen der Hinweise aus dem Buch befolgte und ihn umsetzte, konnte ich innerhalb kürzester Zeit Erfolge erleben. Ich war baff. Es ging gar nicht darum, dass tiefe und weltbewegende Weisheiten in dem Buch zu entdecken waren. Gerade die Einfachheit dieser Gedanken, die ich fand, hat mich begeistert. Ich habe in vielen Artikeln und teilweise auch Büchern umständliche und praxisferne Ratschläge gelesen. Aber erstens sind Ratschläge auch Schläge und zweitens waren sie nicht alltagstauglich anwendbar. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich mir das Buch von Dale Carnegie schon angehört habe. Gleich der erste Tipp war etwas, das mir unglaublich geholfen hat. Er handelte davon, sich nicht mehr mit dem zu befassen, was gestern war. Gleichzeitig sollte ich trainieren, mir keine Gedanken mehr über das noch nicht existierende Morgen zu machen. Der Fokus sollte einzig und allein auf dem heutigen Tag liegen. Für mich wurde hier eine tief sitzende Denke durchbrochen. Denn meine andauernden Fahrten im Gedankenkarussell machten mich halb wahnsinnig. Ständig dachte ich darüber nach, was ich in der Vergangenheit hätte besser machen können. Außerdem waren meine Gedanken viel zu oft in der Zukunft. Sie drehten sich um Dinge, die noch gar nicht passiert waren, aber ich hatte schon unzählige Schreckensszenarien im Kopf, die eintreten könnten. Mit diesem kleinen Tipp von Mr. Carnegie veränderte sich meine Wahrnehmung komplett und ich lernte ganz langsam, mich auf das Jetzt zu konzentrieren.
Das erste fette Grinsen nach langer Dunkelheit
Je mehr ich von diesem Buch hörte, desto besser bekam ich meine am Boden liegende Mentalität wieder in den Griff. Das fühlte sich verdammt gut an. Nach einigen Wochen bemerkte ich, dass ich morgens beim Aufstehen nicht mehr in dieser chronischen Bocklosigkeitsschleife gefangen war. Ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Lust auf den Tag. Also schwang ich mich in mein Auto, legte meine Gute-Laune-Musik auf und fuhr einfach drauflos. Die Songs, die ich hörte, ließen mich laut mitsingen. Rückblickend bin ich froh, dass mich dabei keiner hören konnte. War mir aber auch egal, denn mit jedem Kilometer sang ich lauter, leidenschaftlicher und schiefer mit. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, switchte meine Playlist auf "Born to be wild" von Steppenwolf und trat das Gaspedal meines Pampersbombers durch. Die Landschaft flog an mir vorbei und ich spürte ein Kribbeln in mir, das erst in einem breiten Grinsen und dann in einem herzhaften Lachen mündete. Wow, das hatte ich lange nicht erlebt. Mir wurde bewusst, wie lange ich schon unter einem finsteren und schweren Mantel gehockt hatte. Der Mantel war jetzt weg. Von Steppenwolf angelockt, kehrte ein Lebensgeist nach dem anderen wieder zurück und rockte mit mir die Autobahn. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt hatte. In den folgenden Wochen bekam ich immer mehr Lust darauf, die Dinge in meinem Leben anzupacken. Nichts getan hatte ich ja schon lang genug. Ich hatte mich rumschubsen, bevormunden und ignorieren lassen. Am Ende hatte ich sogar das Gefühl, mich aufzulösen und schon gar nicht mehr existent zu sein. Das war jetzt anders. "Welt, duck dich, ich bin wieder da."
Du kannst für niemanden eine tragende Säule sein, wenn du selbst baufällig bist
Stück für Stück gewann ich mein Leben zurück und das fühlte sich unbeschreiblich an. Was Dale Carnegie angeschoben hatte, setzte ich mit großer Energie fort. Klar, es gab natürlich auch Rückschläge und nichts von dieser Veränderung hat von jetzt auf gleich funktioniert. Das ist ja auch logisch. Was sich über so viele Jahre meines Lebens als feste Glaubenssätze und Handlungsweisen in mir eingenistet hat, konnte nicht mal eben mit ein paar Seiten aus einem Buch wieder verschwinden. Doch allein die Gewissheit zu haben, dass es einen Weg gibt, hat mich unglaublich motiviert. Damals habe ich den ersten Schritt auf diesem neuen Weg gemacht, ohne zu wissen, wohin er mich führen sollte. Mental saß ich nicht mehr im Kinosessel und schaute anderen beim Leben zu. Ich lebte nach und nach selbst wieder. Die meiste Zeit meiner heute 49 Jahre habe ich nach den Vorstellungen anderer existiert. Ich war bestenfalls der Kulissenschieber, der für andere die Bühne bereitet, damit sie sich wohlfühlen können. Es ist mir auch heute noch wichtig, dass es den Menschen, die ich liebe, gutgeht. Daran wird sich auch nichts ändern. Der Unterschied zu früher liegt darin, dass ich heute genauso auf mich selbst achte. Den Kulissenschieber André gibt es nicht mehr. Nach nun beinahe 10 Jahren meines Weges der Veränderung bin ich in meinem Leben zum ersten Mal der Hauptdarsteller. Das ist nicht arrogant. Das ist gesund! Ich bin kein Egoist, war das nie und werde es nie sein. Mir ist lediglich klar geworden, wie wichtig es ist, gut für sich selbst zu sorgen. Denn du kannst für niemanden eine tragende Säule sein, wenn du selbst baufällig bist. Heute bin ich mir wichtig. Der Grundstein dafür waren zwei Dinge. Der unbedingte Wille, mich zu verändern und die Offenheit für das, was mir dabei helfen kann. Diese beiden Eigenschaften habe ich tief in mir. Genau an der Stelle wo früher Zweifel, Missmut und negative Gedanken herrschten. Und wenn ich das nächste Mal in mein Auto steige, dann weiß ich jetzt schon, welcher Song den Wagen vibrieren lässt, wenn ich losfahre. Auf der Rückbank sitzen wieder meine Lebensgeister mit Luftgitarre. In meinem Gesicht wird sich erneut dieses Grinsen von damals breitmachen und mit Sonnenbrille auf der Nase werde ich lauthals mitsingen...
"Booooorn to be wiiiiiiiiiiiiild"
Fröhlichst
dein André
Comments