Seit ich weiß, wie es am Ziel ist, bleib' ich lieber auf dem Weg
- André Maaß

- 29. Mai 2022
- 6 Min. Lesezeit

Freitags oder samstags pilgern Millionen Menschen in Kioske und Läden, um ein paar Kreuze zu machen. Ein paar Mal habe ich das auch gemacht und ich kann bestätigen, dass es schon ein Gefühl von positiver Hoffnung auslöst, einen Lotto-Tippschein auszufüllen. Die einen sitzen erst einmal stundenlang am Küchentisch und ermitteln akribisch ihre ganz persönlichen Glückszahlen aus dem Geburtstag von Tante Hedwig und dem vierten Wiederzusammenkommtag des Bruders mit seiner Freundin. Warum sie das tun, weiß ich nicht. Vielleicht arbeiten sie nach dem Motto: "Wenn die hier zu Hause gefallen sind, kommen die heute Abend bei der Ziehung nochmal." Andere holen ihr Kniffelspiel raus und würfeln sich ihre Zahlen zusammen. Wieder andere gehen völlig unvorbereitet in die Annahmestelle und schießen ihre Kreuze einfach aus der Hüfte. Da hat wohl jeder sein System. Nach der Abgabe des Tippscheins hält man mit der Quittung ein kleines Stück Papier in der Hand, an das die ganz große Hoffnung geknüpft wird, den Jackpot zu knacken und dann für alle Zeit ausgesorgt zu haben: "Wenn ich erstmal Millionär bin, dann geht es mir richtig gut und alle Sorgen sind weg."
Die Hoffnung stirbt zuletzt - aber sie stirbt
Ich kann mich gut daran erinnern, wie es mir ging, wenn ich mal so einen Lottoschein ausgefüllt habe. Meist habe ich das gemacht, wenn der Jackpot besonders hoch gewesen ist. Damit war ich ein Gelegenheitstipper. Das ist sowas wie ein Gelegenheitsraucher, nur eben mit Kugelschreiber und Tippschein. Für beide gilt: Sie brauchen es eigentlich nicht, tun es aber trotzdem hin und wieder. Keiner weiß warum. Sie in der Regel auch nicht. Ich kann aber bestätigen, dass ich nach Abgabe meines Lottoscheins voller Hoffnung war, dass sich jetzt das Konto bis zum Bersten füllen wird. Funfact: Je weiter die Ziehung heranrückt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man den Tippschein an jemanden verkaufen würde. Selbst dann nicht, wenn man von ihm mehr Geld bekommen würde, als man für das Spiel ausgegeben hat. Dann ist es endlich so weit und die Zahlen werden gezogen. Fünf Minuten später folgt der Schlag in die Magengrube. Die Hoffnung hat ihre Sachen zusammengepackt und sich vom Acker gemacht. Sie hat aber die Tür offengelassen, damit Ernüchterung, Traurigkeit und Enttäuschung nicht klingeln müssen. Es trifft eben meist die anderen. Man selbst geht wieder leer aus. Umso ekstatischer ist dann die Freude, wenn man mal aus einem der unteren Gewinnränge zumindest etwas mehr als seinen Einsatz wiederbekommt. Da kommt dann doch wieder dieses Gefühl, einen fetten Gewinn eingefahren zu haben, in einem auf. Spätestens an dieser Stelle müsste man bemerken, dass man von jedem Milchmädchen ausgelacht wird, weil es mit den mathematischen Fähigkeiten nicht so weit her ist. Lotto bleibt eben eine Sondersteuer für Menschen, die nicht rechnen können. Das hab selbst ich irgendwann erkannt und hab mir vor 10 Jahren das unsägliche Gelegenheitsgetippe abgewöhnt. Bei einem voll ausgefüllten Schein mit allen Zusatzspielen macht das nach diesen 10 Jahren einen Betrag von guten 1.800 EUR, die ich nicht ausgegeben habe. Darüber freue ich mich jeden Tag wieder.
Ziele erreichen ist gar nicht so schön, wie alle glauben
Dennoch gebe ich zu, das Ziel mit Millionen von Euro vollgestopft zu sein, hat etwas sehr Verlockendes. Aber was wäre, wenn das wirklich mal passieren würde? Wäre ich dann glücklich? Würde es mir dann echt besser gehen? Ich habe da so meine Zweifel. Allenthalben liest man von Lottogewinnern, die die ganze Kohle innerhalb sehr kurzer Zeiträume verjubelt haben und dann wieder ganz hart in der Realität aufgeschlagen sind. Am Ziel ist es scheinbar doch gar nicht so schön, wie viele denken. Da ist der Lottobereich nicht der Einzige. Man kann in viele Lebensbereiche schauen und feststellen, dass es im Ziel nicht am schönsten ist. Natürlich ist es wichtig und fantastisch, gebührend zu feiern, wenn man ein Ziel erreicht hat. Doch sollte man sich darüber klar sein, dass es danach weitergeht. Es folgt eben keine immerwährende Party. Als ich damals in meinem Burn-out war, entstand das große Ziel, dort rauszukommen. Inzwischen habe ich es erreicht. Im Schulterblick erkenne ich aber, dass es gar nicht spannend war, dieses Ziel zu erreichen. Schön? Ja. Erleichternd? Auf jeden Fall. Aber richtig spannend, aufregend und nachhaltig beeindruckend war der Weg dahin. Auf ihm habe ich so viel erlebt, was mich geprägt und verändert hat. Im Ziel zu sein verändert mich nicht. Letztlich habe ich es dann auch nicht mehr als Ziel bezeichnet. Den Burn-out loszuwerden, war lediglich eine Etappe auf meinem Weg. Seit einiger Zeit bin ich mir bewusst darüber, dass ich eigentlich gar kein Ziel mehr habe. Ich gehe diesen Weg einfach. Nicht um anzukommen, sondern um auf ihm zu reisen. Allein darin steckt alles, was mich glücklich macht. Wo sollte ich auch ankommen? Was soll dann da auf mich warten? Die ewige Glückseligkeit? Ganz sicher nicht. Diese Glückseligkeit finde ich ausschließlich dabei, meinen Weg zu gehen. Hier begegnen mir Menschen und Erlebnisse, von denen ich lernen kann und die ihre Spuren in mir hinterlassen. Was soll ich mit den ganzen jubelnden Fahnenschwenkern, die im Ziel warten und es ja schon immer gewusst haben? Da feiere ich das, was ich erreicht habe, lieber mit den Menschen, die den Weg mit mir gegangen sind. Und dann? Ganz einfach: weiter geht's. Alles, was vor mir liegt, ist unbekanntes Land. Ich war noch nie dort. Die Landkarte ist weiß und leer. Ich weiß nicht, wohin mich mein Weg führt und ein Ziel habe auch nicht. Dieses Gefühl ist sehr befreiend, denn damit ist es auch unmöglich, sich zu verlaufen. Egal, wie ich mich an Gabelungen und Kreuzungen entscheide: Es wird immer richtig sein.
Erreicht man sein Ziel, kann man in ein Loch fallen
Wer im Vertrieb arbeitet, kennt das Gefühl zur Genüge. Dein Jahr beginnt und du gibst Vollgas, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Die meisten Unternehmen arbeiten mit Zielvereinbarungen, wobei der Begriff nicht ganz frei von Ironie ist, denn es wird nicht vereinbart, sondern vorgegeben. Nun rotierst du wie der tasmanische Teufel bei Bugs Bunny, bis du dann am Ende des Jahres stolz auf deine Zielerreichung blicken kannst. Du lehnst dich zufrieden zurück, klopfst dir auf die Schulter. Du hast es erreicht. Doch wehe, der nächste Tag und das neue Jahr bricht an. Dann fällst du in ein Loch und plumpst mit einem satten Schlag auf den Boden der Realität. Alles, was du gestern noch erreicht hattest, ist heute keinen Pfifferling mehr wert. Dein Glück ist der Ernüchterung gewichen. Es ist beinahe schon wie ein Katergefühl nach durchzechter Nacht. Wieder stehst du vor dem Berg, den es im neuen Jahr zu bewältigen gilt. Der Bergsteiger Reinhold Messner drückte es mal so aus: "Viele Menschen glauben, dass man angekommen ist, wenn man den Gipfel erreicht hat. Dabei ist er nur der Umkehrpunkt. Vorher geht es aufwärts und nachher eben abwärts. Aber das Wesentliche ist immer die Rückkehr." Vielleicht hilft es, sich dessen bewusst zu werden. Der Moment auf dem Gipfel ist schön und jeder, der sein persönliches Gipfelkreuz erklommen hat, sollte den Augenblick voll und ganz genießen. Es war eine tolle Leistung. Mit einem Lächeln kann man sich dann umdrehen und den ersten Schritt auf dem folgenden Weg machen - egal ob es der Rückweg nach Hause oder der neue Weg in ein anderes Abenteuer ist.
Wenn Perfektion anfängt, hört der Spaß meistens auf
Lernt man etwas Neues, vergeht einige Zeit, bis man es perfekt kann. Blöd ist nur, wenn man das Ziel, etwas zu erlernen und damit eine gewisse Perfektion erreicht hat. Dann fängt es an, langweilig zu werden. Richtig Spaß macht an sich nur die Zeit des Lernens. Nicht umsonst sagte Aktienprofi Warren Buffet einmal: "Wenn du der Beste in einem Raum bist, bist du im falschen Raum." Oder mit einem asiatischen Sprichwort ausgedrückt: "Bist du Meister in einer Disziplin, musst du Schüler in einer anderen werden." Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass der Spaß wieder zurückkommt, wenn du einen neuen Weg beschreitest, anstatt immer wieder auf demselben ausgelatschten Pfad zu gehen. Kinder, die am Strand eine Sandburg bauen, haben einen Mordsspaß dabei. Der wird nur noch dadurch getoppt, sie hinterher wieder zu zerstören. Es sind in der Regel die Väter, die dann sowas sagen wie: "Du kannst doch jetzt nicht unsere schöne Burg kaputtmachen!". Kann er doch. Was willst du auch sonst damit machen? Verwalten? Vermieten? Als Monument väterlicher Schaffenskraft unter Denkmalschutz stellen? Es geht einzig um die Freude auf dem Weg zu dieser Burg. Die Motivation, das Ziel zu erreichen, ist eine ziemlich simple: Mit beiden Füßen alles wieder platt zu trampeln, damit man was anderes bauen kann.
Perfektion und Ziele sind nur Punkte auf dem Weg, an denen man rasten und einen Augenblick verweilen kann. Wenn du glücklich sein und bleiben willst, dann ist mein Tipp: Steh wieder auf und geh einen neuen Weg weiter. Leben ist nun einmal da, wo du noch nicht warst. Wenn man immer das Gleiche tut, wird nichts Neues dabei herauskommen. Vielleicht hast du ja mal Lust bekommen, dein Ziel aus den Augen zu verlieren. Das kann sogar Spaß machen.
Fröhlichst
dein André








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