Mein Brief an mich
- André Maaß
- 17. Jan. 2022
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Jan. 2022

Hallo André,
wundere dich bitte nicht, dass ich dir heute schreibe. Ich finde einfach, dass es mal an der Zeit ist. Unser Weg dauert nun schon 49 Jahre. Nach allem, was wir beide gemeinsam erlebt haben, sollten wir mal über die Schulter blicken. Viel von dem, was auf unserer Reise los war, ist in Vergessenheit geraten und ich bin der Meinung, dass das nicht sein darf. Es gibt so viele wundervolle Erinnerung und Erlebnisse. Das fing in früher Kindheit schon an. Weißt du noch, wie du damals als kleiner Junge deinen ersten echten Freund gefunden hast? Du warst gerade mit deinen Eltern in dein neues Dorf gezogen und kanntest echt keine Seele. Man sagt ja immer, Kinder würden so leicht Kontakte knüpfen. Sowas sagen auch nur Erwachsene. Die wissen eben nicht, wie es ist, wenn sich ein kindliches Gemüt in einer neuen Welt zurechtfinden muss. Wenn du dich als Kind bewusst dazu entschieden hast, mal allein zu spielen, ist es was anderes, als wenn du tatsächlich niemanden hast, mit dem du spielen kannst. So ging es dir damals. Bis zu dem Moment, als du aus dem Wohnzimmerfenster im Obergeschoss deines Wohnhauses geschaut hast. Du konntest direkt auf den Spielplatz gucken. In der Sandkiste saß ein dunkelhaariger Junge und spielte mit Autos im Sand. Ich erinnere mich gut, wie lange du gezögert hast. Irgendwann hast du all deinen Mut zusammengenommen, hast dir ein paar Autos geschnappt und bist mit klopfendem Herzen auch zur Sandkiste gegangen. Eine Zeit lang habt ihr beide dort gesessen und gespielt. Jeder für sich. Bis ihr am Ende des Tages gemeinsam in der Mitte zusammen Straßen, Berge und Garagen gebaut habt. Das war für dich ein unbeschreibliches Gefühl, als du nun deinen ersten richtigen Kumpel hattest. Dieser eine Tag hat euch in Kindheit und Jugend fest verbunden. Was für ein Glücksgefühl!
Mit deiner Schulzeit war es wohl so, wie es bei vielen Kindern und Jugendlichen ist. Irgendwie war Schule nie dein Ding. Manche Sachen mochtest du immer gern. Anderes wiederum war echt grauenvoll. Wenn ich allein daran denke, wie du in der Grundschule Handarbeitsunterricht erdulden musstest. Noch heute muss ich schallend darüber lachen, wie du versucht hast, ein Nadelheft zu nähen und zu besticken oder einen Schal zu stricken. Deine alte Handarbeitslehrerin Frau Höhne hat immer den Kopf über deine Werke geschüttelt. Man kann aber sagen, was man will: Du hast dein Bestes gegeben, um ein halbwegs brauchbares Ergebnis zu erzielen. Nach der Orientierungsstufe, wo in Klasse 5 und 6 darüber befunden wurde, wie es schulisch weitergeht, hat man dich auf die Hauptschule geschickt. Dieser Entscheidung hast du dich gebeugt, ohne rumzumosern. Im Grunde war es dir ja auch egal. Das änderte sich aber mit der Zeit. Du merktest, dass du doch etwas auf dem Kasten hast und nicht der Loser bist, den viele in dir gesehen haben. Am Ende hast du es sogar bis zum Abitur gebracht. Das war zwar nicht der geradeste Weg, aber dafür hast du eine Menge daraus mitgenommen. Du hast so viele Menschen kennengelernt und jeder von ihnen war gut für dich. Die einen als warnende Beispiele, die anderen als Vorbilder. Du kannst stolz auf dich sein, was du erreicht hast, obwohl viele nicht an dich geglaubt oder dich sogar belächelt haben. All das verdankst du dem glücklichen Umstand, dass dir einige wenige Lebensmentoren begegnet sind, die dir den Weg zeigten.
So wie vermutlich bei den meisten Menschen, ging es in deinem Leben bisher mal rauf, mal runter. Positive Erlebnisse hast du immer sehr genossen. Mit den Tiefpunkten allerdings hast du dich früher sehr schwergetan. Da warst du häufig in so einer Meckerspirale. Die Top 3 deiner Lieblingsaussagen waren dann häufig:
Top 3: "Warum passiert immer mir sowas?"
Top 2: "Immer hab ich so ein Pech!"
Und unangefochten auf Top 1 der Charts:
"Ich hab nie so viel Glück!"
Herrje, das war aber auch nicht leicht zu ertragen. Dem Universum sei Dank, hast du dich da sehr verändert. Diese Veränderung kam im Grunde durch den wohl dramatischsten Tiefpunkt, den du bisher hattest. Deinen Burn-out. Das Leben ist manchmal schon ein echt ironisches Miststück. Gerade deine wahrscheinlich größte Krise ist zum Auslöser für das beste Leben geworden. So vieles hat dich in diese mentale Katastrophe hineingeführt. Vor allem waren es Gefühle, die sich darum drehten, einsam, missverstanden, überfordert, überflüssig, unwichtig, unfähig und ungeliebt zu sein. Doch es ist dir gelungen, all das hinter dir zu lassen. Du selbst hast es nicht für möglich gehalten, aus dieser bedauernswerten Lage je wieder rauszukommen. Und doch ist es dir gelungen. Sicher, das war alles andere als einfach. Die harte Realität zu sehen und anzuerkennen, dass du selbst an all dem schuld warst, war beinahe unerträglich. Wie oft hast du darüber Tränen vergossen, über dich selbst geärgert und dich verflucht. Und doch hast du damals den ersten Schritt auf dem Weg der Veränderung gemacht. Auf ihm gehst du nun schon 9 Jahre. Stark war immer wieder der Impuls, einfach liegenzubleiben, wenn es dich wieder einmal umgehauen hat oder eine Herausforderung zu groß erschien. Du hast Menschen betrauert, die du aus deinem Leben schicken musstest, weil sie nicht mehr gut für dich waren. Es gab so viele Entscheidungen zu treffen, von denen du erst heute richtig überblicken kannst, wie wichtig sie waren. All das, was du in den letzten Jahren auf dich genommen hast, führte dich heute in ein rundherum zufriedenes und glückliches Leben. Sogar deine dir angeborene gute Laune ist wieder in dein Leben zurückgekehrt.
Natürlich kann nicht jeder Tag der Beste sein und es wird immer wieder Momente geben, die dich treffen, dich herausfordern oder dich schlicht umhauen. Gerade dann ist es so wichtig, dass du dich an all das schöne, spannende und faszinierende erinnerst, das dir in deinen 49 Jahren bisher passiert ist. Auch wenn sich negatives immer deutlich intensiver anfühlt und man glaubt, dass es jetzt dauerhaft so ist. Nichts bleibt für immer. Wenn du in einem Tiefpunkt bist, wird es auch wieder besser. Denn es ist nicht nur auf dem Gipfel eines Berges schön. Die Täler haben viele tolle Ecken, in denen ebenfalls schöne Seiten des Lebens warten. Wie du sie findest? Indem du an all das Positive denkst, das dir schon begegnet ist. Es lässt mich über das ganze Gesicht strahlen, wenn ich sehe, was du aus dir gemacht hast. Nichts ist mehr da von diesem überforderten, missmutigen, traurigen und niedergeschlagenen André. Aus dir ist ein Sonnenschein geworden, der es sogar schon geschafft hat, anderen ein bisschen Wärme abzugeben. Die Kraft, die deine Sonne nährt, ist deine Frau, deine Familie und das, was du in deinem beruflichen Leben tun darfst. Du weißt all das zu schätzen, weil du den Kontrast erfahren hast. Dir ist klar, dass es auch mal anders war.
Wann immer du wieder ins Zweifeln kommst, erinnere dich an diese Kraft. Du bist heute ein anderer Mensch. Alles, was dir auf deinem Weg passiert ist, hat dich zu dem gemacht, der du heute bist. Deine Gaben, deine Fähigkeiten, deine Fehler, deine Unperfektheiten - sie alle gehören zu dir und machen diesen André aus. Du bist wie du bist und wer dich so nicht will, verdient dich auch nicht anders. Bitte erinnere dich daran. Du wirst geliebt, genauso wie du bist und das ist das schönste, was dir im Leben passieren kann. Schätze es!
Fröhlichst
Dein ich
Comments