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Keine Ahnung, wo ich heute wäre

  • Autorenbild: André Maaß
    André Maaß
  • 11. Jan. 2022
  • 5 Min. Lesezeit


Mir ist vor nicht allzu langer Zeit ein alter Leitz-Ordner in die Hände gefallen. Vor allem waren dort meine ganzen Zeugnisse drin. Aus einem flüchtigen Durchblättern ist ein intensiver Trip in meine Vergangenheit geworden. In Gedanken war ich wieder in meiner Schulzeit. Je länger ich mich in die Unterlagen vertiefte, desto mehr Bilder kamen mir wieder in Erinnerung. Bei dieser Gedankenreise habe ich nicht einmal bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Mit jedem Moment, der verging, durchlief ich die unterschiedlichsten Emotionen. Mal hab ich mich dabei erwischt, wie ich dauergegrinst hab. Ein anderes Mal wurden meine Augen sogar ein bisschen feucht. Von allem war etwas dabei. So ist das wohl im Leben, denn es ist nie ausschließlich gut oder durchgehend schlecht. Auch, wenn es sich manchmal so anfühlt.


Plötzlich fällt mein Blick auf einen Namen


Ich war echt ein schulischer Rohrkrepierer, wenn ich mir meine in Zensuren gegossenen Leistungen da so ansehe. Heute muss ich über manches den Kopf schütteln und ich frage mich, wo eigentlich mein Problem lag. Schuldig an meiner geistigen Tieffliegerei war ich natürlich selbst und heute bin ich fein damit. Damals hab ich das natürlich nicht gesehen und gab allem und jedem die Schuld dafür. Während mein Blick so über die Zeugnisse fliegt, streife ich einen Namen. Zuerst blättere ich weiter, kehre aber dann doch noch einmal zurück. Es ist das Abschlusszeugnis der Hauptschule, auf der ich damals den qualifizierten Hauptschulabschluss bekommen habe. So wie ich damals drauf war, bezeugte das eine enorme Leistung für mich, denn meine Ausgangslage war alles andere als blumig. Der Name, der mir jetzt wieder ins Auge springt, steht unten am Ende des Zeugnisses. Da steht "Dreyer". Das ist der Name meines damaligen Klassenlehrers, der mich von der siebten bis zur neunten Klasse begleitet hat. Aus der Orientierungsstufe, eine Art zweijährige Beobachtungsphase in Klasse fünf und sechs, kam ich mit einer Hauptschulempfehlung in seine Klasse. Das hatte ich mir hart erarbeitet. Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Wiederholern, verkrachten Existenzen, Mauerblümchen, Außenseitern, Träumern, Flachpfeifen, Clowns und Helden. Jeder von uns hatte seinen Rucksack zu tragen. Da brauchte es schon jemanden, der mit einer solchen Gemengelage umgehen konnte. Das war Herr Dreyer. Er war mal Zeitsoldat und Offizier. Einerseits hatte er genau die richtige Härte, die wir Chaoten damals gebraucht haben. Für mich persönlich kann ich sagen, dass er schnell zu einer Vaterfigur für mich wurde. Er war in einer Lebensphase, die mir keinen Halt bot, ein sicherer Anker, weil er mich wertschätzend behandelte.


Ich will, dass du weitermachst


So war ich es von zu Hause nicht gewohnt. Mein Vater war immer sehr schnell mit Kritik und damit, mir zu aufzuzeigen, was ich nicht kann. Das Wort meines Klassenlehrers hingegen hatte großes Gewicht für mich. Er fand immer die richtigen Worte. Einerseits habe ich von ihm klare und auch durchaus harte Kritik erfahren, die dennoch immer wertschätzend war. Andererseits wusste Herr Dreyer genau, wo er mich packen und wie er mich motivieren konnte. Was ihn aber besonders auszeichnete, ist die Tatsache, dass er an mich geglaubt hat. Er hat in mir gesehen, was mir selbst verborgen geblieben ist. Ich erinnere mich an einen Elternsprechtag. Dort ging ich zusammen mit meinem Vater hin. Es ging um die weiteren Möglichkeiten nach dem Hauptschulabschluss. Hauptsächlich unterhielt sich Herr Dreyer mit meinem Vater. Ich saß eher etwas desinteressiert daneben und war mit meinen Gedanken ganz woanders. Dann richtete er plötzlich das Wort an mich. Seine Worte sind mir noch so gegenwärtig, als wenn er sie eben erst gesagt hätte: "André, ich weiß, dass du zu Hause keine optimale Situation hast. Als ich dich vor zwei Jahren kennengelernt habe, warst du, was deine Leistungen angeht, im Keller. Heute, in Klasse neun sehe ich einen ganz anderen André. Du hast dich unglaublich gesteigert und ich weiß, dass da noch viel mehr in dir steckt. Ich glaube daran, dass du noch ganz andere Abschlüsse erreichen kannst. Ich will, dass du weitermachst!" Wow, so hatte noch keiner mit mir gesprochen. Seine Worte gingen mir durch und durch. Kein Wunder, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe.


Manchmal brauchst du einfach jemanden, der an dich glaubt


Die Worte von Herrn Dreyer waren ein Wendepunkt in meinem Leben. Er hat mir gezeigt, dass in mir mehr steckt, als das, was ich bis dahin gezeigt hatte. Dieses Gefühl, dass da jemand ist, der an mich glaubt, hat mir eine Menge Kraft gegeben. Ich wechselte die Schulen, holte mir einen Abschluss nach dem anderen und hielt am Ende sogar mein Abitur in der Hand. Das Abschlusszeugnis vom Gymnasium ist für mich nicht in erster Linie ein Zeugnis. Es ist vielmehr der eindeutige Beweis, dass im Leben eine Menge geht, wenn du jemanden hast, der an dich glaubt. Herr Dreyer hat das getan. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass ich zu mehr imstande bin, als ich es selbst für möglich gehalten habe. Ihm verdanke ich es, dass ich nicht aufgegeben habe. Durch ihn habe ich den Glauben damals an mich selbst entwickelt. Es ist ein unbeschreibliches Glück für mich, dass immer wieder Menschen in mein Leben getreten sind, die an meiner Seite standen. Vor gar nicht allzu langer Zeit war es ein anderer Mensch. Es war die Phase, nach meinem Burn-out, in der ich innerhalb meiner Firma den Job gewechselt hatte. Nun machte ich meine ersten Schritte im Trainerjob. Wie heute auch, habe ich damals Seminare in Schulen angeboten, die Schülern helfen sollen, bessere Bewerbungen zu schreiben. Meine ersten Seminare waren eine absolute Katastrophe. Mir fehlten vor allem Erfahrungen, um auch mal mit schwierigen Gruppen klarzukommen. Oft saß ich nach solchen Veranstaltungen in meinem Auto und mir liefen vor Wut und Verzweiflung die Tränen runter, weil es mir nicht gelungen ist, einen guten Job zu machen. Ich war ein paar Mal kurz davor, alles hinzuschmeißen und aufzugeben. Das zog sich über 2 Jahre so hin. Immer wieder gab es Rückschläge, die mich tief getroffen haben. Letztlich verdanke ich es meiner wundervollen Frau, dass ich heute ganz anders aufgestellt bin. Sie hat mir im Laufe der letzten Jahre immer wieder gezeigt, dass sie fest und unumstößlich an mich glaubt. Sie war und ist überzeugt davon, was ich kann und wer ich bin. So ist es auch zu einem sehr großen Teil ihr Verdienst, dass ich es geschafft habe, den Burn-out hinter mir zu lassen und dann darüber auch noch ein Buch zu schreiben.


Die Masse machts eben doch nicht


Du brauchst nicht viele Menschen, die an dich glauben. Es reicht ein einziger. Ob es derjenige ehrlich meint, spürt man sehr schnell. Denn es geht nicht darum, nur bejubelt zu werden. Es geht auch um Kritik. Die sollte aufrichtig im Inhalt und wertschätzend in der Art und Weise sein. Dann kann man davon ausgehen, dass sie von einer Person kommt, die es ernst mit mir meint. So war es damals bei Herrn Dreyer und heute mit meiner Frau. Beides sind Menschen, die mir gezeigt haben, dass ich es kann. Beide haben mich weitergebracht, als ich es je für möglich gehalten habe und ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit, dass beide Menschen Teil meines Lebens sind. Ich weiß nicht, wo ich heute ohne sie wäre.


Fröhlichst

Dein André


 
 
 

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