Die Seele mal zum Schaukeln schicken
- André Maaß
- 30. Apr. 2022
- 5 Min. Lesezeit

Oh Mann, das tat wirklich gut. Diese paar Tage fühlten sich wie ein wochenlanger Urlaub an. Früher habe ich mir solche kleinen Auszeiten nie gegönnt. Dafür war einfach keine Zeit. Zumindest war ich dieser irrigen Annahme aufgesessen. Auf die Idee, dass ich mir diese Zeit einfach mal nehmen muss, bin ich gar nicht gekommen. Wahrscheinlich auch wieder so ein saudummer Glaubenssatz meiner Großeltern: "Pause machen kannst du, wenn alles erledigt ist." Darüber denke ich heute anders und ich bin sehr froh und dankbar, dass ich auch in diesem Punkt wieder von meiner Frau lernen konnte. Durch sie bin ich erst darauf gekommen, dass es wichtig ist, sich kleine Inseln der Ruhe zu schaffen. Freiwillig gibt sie einem keiner. Man muss sie sich nehmen. Heute tun wir das und gerade waren wir wieder für ein paar Tage auf unserer Lieblingsinsel Sylt. Das ist für uns beide ein Seelenort geworden.
Unser Zeitgefühl lassen wir auf dem Festland
Schon in dem Moment, wenn wir zu Hause losfahren, unsere Thermosbecher mit Kaffee in der Hand halten und den Wagen auf die Autobahn Richtung Schleswig-Holstein lenken, spüren wir beide, wie sich Entspannung in uns ausbreitet. Klar, ich fahre sowieso gern Auto. Aber der Weg nach Sylt hat eine ganz besondere Magie. Sowohl für meine Frau, als auch für mich. Wenn wir dann die ersten Atemzüge der Nordseeluft schnappen, sind wir beide bereits voll im Erholungsmodus. Unser Zeitgefühl haben wir dann vermutlich auf dem Festland gelassen, denn die Tage scheinen hier länger zu sein. Die Frühlingssonne begleitet uns beim ersten Spaziergang die Küste entlang. Das Rauschen der leichten Brandung ist wie eine akustische Umarmung und es fühlt sich an, als wenn uns die Insel damit begrüßt. Ich fühle in mich hinein und bemerke eine Ruhe, die ich beinahe gar nicht beschreiben kann. Ein bisschen hat es was von "nach Hause kommen". Meiner Frau geht es ebenso. Wir setzen uns auf eine Bank und genießen den Blick auf die sich leicht bewegende Nordsee. Unmöglich, zu sagen, wie lange wir dort gesessen haben. Es ist auch egal, wie viel Zeit vergeht. Ich spüre nicht einmal den geringsten Impuls, auf meine Uhr zu schauen. Das Einzige, was ich intensiv wahrnehme, ist eine tiefe Ausgeglichenheit, die sich im ganzen Körper ausgebreitet hat.
Der Alltag ist Seemeilen weit entfernt
Nach einiger Zeit haben wir uns entschieden, noch einmal den Strand zu wechseln und gehen nahe Wenningstedt einen Dünenweg hinauf. Oben auf dem Gipfel steht, von Dünengras umgeben, eine Bank. Was für ein toller Ausblick von hier. Das müssen sich die Bankbauer wohl auch gedacht haben. Sie ist frei und wir lassen es uns nicht nehmen, noch mehr von der Nordseeluft und dem Ausblick in uns aufzusaugen. In mir kommen Gedanken an früher auf. Ich habe mir in meinem Leben bisher selten die Zeit genommen, um richtig runterzufahren und einfach nur diese Ruhe zu genießen, wie ich es jetzt gerade tue. Meist hatte ich in der Vergangenheit das Gefühl, getrieben zu sein. Während meiner Burn-out-Zeit hatte ich oft Albträume. In einem, der ständig wiederkehrte, bin ich gelaufen. Ich lief und lief, bis ich beinahe vor Erschöpfung umgefallen bin. Wenn ich mich dann kurz irgendwo hinsetzte, weil ich nicht mehr konnte, stand sofort jemand neben mir, der mich wieder aufgescheucht hat, damit ich weiterlaufe. Von diesen Träumen bin ich meistens völlig fertig aufgewacht. Das ging sogar so weit, dass ich schon gar nicht mehr einschlafen wollte. Ich hatte früher nie das Gefühl, dass es in Ordnung ist, wenn ich Zeit für mich nutze, um zur Ruhe zu kommen. Mir wurde sogar eingeredet, dass sowas verlorene Zeit ist, in der man ja noch ganz viele Sachen erledigen könnte. Auch das hat letztlich dazu geführt, dass mich der Burn-out so schlimm erwischte. Hier nun, auf der Bank an der Nordsee, mit meiner Frau, spüre ich die Ruhe, die ich so lange vermisst habe. Wobei das nicht wirklich stimmt. Da ich diese Art von Ruhe nicht kannte, konnte ich sie auch nicht vermissen. Kennengelernt habe ich sie erst durch meine Frau. Dieser Augenblick hier oben auf der Düne tut uns beiden gerade so gut. Das Rauschen der Wellen wiegt unsere Seelen langsam hin und her und es dauert dann auch nicht mehr lange. Wir dösen ein. Ich nehme zwar wahr, dass Spaziergänger unsere Bank passieren, aber ich lasse mich dadurch nicht in meiner tiefen Entspannung stören. Ich habe es schon das ein oder andere Mal mit einer Meditation versucht, bin aber nicht so recht reingekommen. Die Nordsee hat das spielend bei mir geschafft.
Das mit den Auszeiten hätte ich schon viel früher machen sollen
Abends, als ich im Hotel auf dem Bett liege und meinen Gedanken nachhänge, denke ich wieder an meine Vergangenheit. Warum habe ich mir solche Auszeiten nicht schon früher gegönnt? Was habe ich mir da ins Gehirn sprechen lassen, dass ich fest davon überzeugt war, so etwas nicht zu dürfen? Letztlich habe ich damit im Wertesystem anderer gelebt. Ihre Sichtweisen habe ich mir aufdrücken lassen. An diesen Ansichten ist nichts Falsches. Sie sind völlig in Ordnung. Nur eben nicht in meiner Welt. Sie passen nicht zu mir. Ich habe sie nur übernommen, damit alle zufrieden sind. Mit Ausnahme von mir. Erst in den letzten Jahren bin ich dahingekommen, meine Einstellung diesbezüglich zu verändern. Auch dafür war der Burn-out die Initialzündung. Wäre er nicht gekommen, hätte ich weitergemacht, wie bisher. Meine Frau bestärkte mich immer wieder darin, dass es gut und wichtig ist, auch sich selbst immer wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Ich kann nur für andere da sein, wenn es mir selbst gutgeht. Das bedeutet nicht, dass die Menschen in meinem Umfeld, die ich liebe, unwichtig sind. Es heißt lediglich, dass ich mich dabei nicht vergessen darf. Es sei denn, ich möchte wieder zurück in den Burn-out. Ja, nee, besser nicht. So wie jetzt, geht es mir fantastisch und ich spüre, wie sehr ich solche Auszeiten brauche, um in meinem persönlichen Gleichgewicht zu sein. So wenig wie ich mich früher getraut habe, darauf zu achten, so wichtig nehme ich das heute. Zum Glück habe ich meine Frau an meiner Seite, die mich dann auch gelegentlich daran erinnert, falls ich es mal vergesse. Sie braucht und liebt diese kurzen Pausen vom Alltag genauso.
Absolut empfehlenswert
Ich bin kein Fan davon, mit Tipps und guten Ratschlägen herumzuwerfen. Jeder tickt anders und jeder braucht etwas anderes, damit es ihm gutgeht. Was ich tun kann ist, zu erzählen, wie es für mich war. Ich berichte, was ich verändert habe, um meine mentale Krise hinter mir zu lassen und die Brücken abzubrechen, damit sie mir nicht mehr nachlaufen kann. "Ich-Zeit" spielt dabei eine zentrale Rolle. Dazu muss man nicht immer nach Sylt fahren. "Ich-Zeit" ist das, was du draus machst. Fühl und höre in dich, was du brauchst, damit es dir gutgeht. Die meisten Menschen können wie aus der Pistole geschossen sagen, wodurch es ihnen schlecht geht. Mach dir einfach mal darüber Gedanken, was dir Ruhe und Ausgleich schafft. Und dann tu es. Sag deinen Lieben, dass du ab sofort in einem bestimmten Rhythmus Zeit für dich brauchst. Vielleicht ist es ja bei dir auch so wie bei mir und meiner Frau und du kannst aus dieser "Ich-Zeit" auch einen "Wir-Zeit" machen, in der ihr die Seele einfach mal zum Schaukeln schickt. Sei es dir wert. Kümmere dich um dich. Du bist genauso wichtig, wie die Menschen in deinem Umfeld.
Fröhlichst
dein André
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