Alle zerren an dir, solange du es zulässt
- André Maaß
- 13. Feb. 2022
- 5 Min. Lesezeit

Du hast Feierabend und bist auf dem Weg nach Hause. Der Tag war anstrengend, lang und für deine Nerven nicht gerade ein Kuraufenthalt. Wieder gab es endlose Besprechungen, bei denen am Ende effektiv nichts rausgekommen ist. Es ging schon damit los, dass manche nach zwei Jahren Corona immer noch nicht wissen, wie sie mit einer Videokonferenz umgehen müssen. Einige legen ihr Tablet, mit dem sie sowieso nicht richtig umgehen können, so hin, dass du ihnen während der Besprechung von unten in die Nase gucken kannst. Bei anderen stimmt zumindest das Kamerabild, aber im Hintergrund sieht es aus, als wenn da Raketen getestet werden. Gut, dass es keine Geruchskonferenz gibt. Auf dem Nachhauseweg musstest du auf der Autobahn noch ein Weilchen im Stau verbringen, weil ein schrottreifer LKW versucht hat den kurzen Kilometer rückwärts zur Abfahrt zurückzukommen. "Endlich zu Hause" denkst du dir, als du den Motor auf deiner Hofeinfahrt ausmachst. Eigentlich bräuchtest du jetzt erst einmal eine schöne Stunde für dich, um runterzukommen. Statt eines "Hallo, schön, dass du da bist", bekommst du jedoch beim Aufschließen der Haustür lediglich ein "Ah gut, dass du kommst. Wird auch Zeit" zu hören.
Als wenn du einen nassen Feudel ins Gesicht kriegst
Noch mit Jacke im Flur stehend wird ein verbaler Eimer über dir ausgeschüttet, was jetzt alles dringend erledigt werden muss. Ein Stapel Altpapier und die Flaschen müssen zum Container, der Einkauf muss erledigt werden und bei der Gelegenheit könntest du es ja noch schaffen, zwei Pakete von der Post abzuholen. Wenn du dann wieder da bist, muss der Hund noch raus. Ein kurzer Seitenblick in die Küche zeigt dir, dass das Geschirr des Tages nicht im Geschirrspüler steht, sondern auf ihm zum Erliegen gekommen ist. Über allem schwebt ein Grundpiepen, das die fertige Waschmaschine von sich gibt, weil sie von gesäuberter nasser Wäsche befreit werden will. Um das Ganze abzurunden, bekommst du durch die Blume noch das Gefühl vermittelt, dass es deine Schuld ist, wenn all das noch nicht erledigt ist. So muss es sich anfühlen, wenn einem ein nasser Feudel ins Gesicht klatscht. Du stellst deine Tasche ab, holst einmal tief Luft und beginnst damit, den Zettel abzuarbeiten, damit dann später irgendwann auch mal wirklich Feierabend ist. Kaum ist alles geschafft und du lässt dich für einen Augenblick nieder, um dich etwas vom Tag abzulenken, wird bereits nach dir gerufen und dir die Frage gestellt, was du denn da machst. Unweigerlich denkst du an die Zeiten, als du für dich allein warst. Du bist nach Hause gekommen und hattest erst einmal deine Ruhe, um den Tag abzuhaken. Keine Aufträge, keine Fragen, keine Problemwälzungen noch bevor du überhaupt deine Schuhe ausgezogen hast.
Früher war da noch Zeit für dich
Es geht nicht darum, sich vor anfallenden Aufgaben zu drücken oder den Partner damit allein zu lassen. Hier steht etwas völlig anderes im Vordergrund. Es ist die Zeit, die im Grunde jeder für sich allein benötigt, um sich zu sammeln und die Energiereserven wieder aufzuladen - damit man auch wieder für andere da sein kann. Oma und Opa sagen ja gern mal "Früher war alles besser". In solchen Situationen, wie eben beschrieben, denkst du vielleicht unweigerlich wieder an früher, als du derlei Dinge noch nicht ständig miterleben musstest. Du hattest Zeit, um dich nach anstrengenden oder auch mal schlechten Tagen wieder zu erden. Alles, was dich aufgewühlt hat, konntest du auf diese Weise ablegen. Tolle Momente und Erfolge hast du gebührend genießen können. Weil du den Raum dafür hattest. Heute erlebst du vielleicht nichts mehr davon. Du fühlst dich permanent nur gestresst und sollst am besten mehrere Dinge gleichzeitig tun. Wenn dein Arbeitstag rum ist, geht es im Privatleben ungebremst weiter. Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass das nicht lange gutgehen kann. Ich habe das sehr ähnlich erlebt. Als der Druck in Beruf und Privatleben größer geworden ist, verringerte ich die Zeit für mich selbst immer weiter, um alles zu schaffen. Das Perfide ist, dass ich das zuerst gar nicht gemerkt habe. Es war irgendwie selbstverständlich, dass ich das so mache. Ich habe es einfach nicht hinterfragt. Am Ende war da für mich selbst gar nichts mehr übrig. Ich lebte nur noch für andere. Je mehr an mir gezerrt wurde, desto mehr habe ich versucht, es allen recht zu machen. Man fühlt sich wie der durchgeknallte Hund, der seinem eigenen Schwanz nachjagt und bis zum mentalen Schleudertrauma ist es dann nicht weit.
Ich wollte nur ein bisschen Zeit für mich
Heute weiß ich, dass hier einer der großen Pusher für meinen Burn-out lag. Ich bin, wie die meisten Menschen, nicht für das Alleinsein gemacht. Das heißt aber nicht, dass ich es nicht kann. Es ist für mich sogar lebensnotwendig, ab und zu auch mal allein zu sein und Zeit für mich zu haben. Es gab leider Phasen, in denen ich darauf nicht geachtet habe. Ich ließ zu, dass mich die Bedürfnisse anderer mehr gekümmert haben, als meine eigenen. Ruhe war etwas, das mir mehr und mehr fremd wurde. Stattdessen war da diese Rastlosigkeit, die sich einmal in einem Traum manifestierte. Darin rannte ich einen Weg entlang. Eigentlich war ich total außer Atem und wollte anhalten. Aber ich konnte nicht. Dann endlich kam eine Bank und ich wollte mich setzen. Sofort stand jemand neben mir und trieb mich an, weiterzulaufen. So ging es einige Male, bis ich schweißgebadet aufwachte. Dieser Traum war das Sinnbild für die Situation, in der ich mich damals befand. Alle zerrten an mir, wollten etwas und niemanden durfte ich enttäuschen. Wenn ich tatsächlich mal nein sagte, wurde so lange auf mich eingeredet, bis ich letztlich doch nachgab. Permanent musste ich verfügbar sein. Dabei wollte ich nichts weiter, als nur ein bisschen Zeit für mich zu haben. Sie sollte der Energiespender sein, der mich wieder für die Herausforderungen aus Beruf und Privatleben stärkt. Stattdessen ist sämtliche Kraft aus mir abgeflossen, bis am Ende nichts mehr übrig war.
Es gibt kein starkes WIR ohne ein gesundes ICH
Tatsache ist, dass es niemandem hilft, wenn ich ausgefeuert bin. Dann noch weiter an mir zu zerren, ist wie bei einem völlig überhitzten Motor noch weiter Vollgas zu fahren, in der Hoffnung, dass er vom Fahrtwind gekühlt wird. In welchen Bereich meines Lebens ich schaue, ist egal. Es ist überall gleich. Wenn ich mental nicht ausgeglichen und gesund bin, kann ich auch nicht für andere stark sein. An diesem Punkt konnte ich viel in meinem Leben ändern. Hinzukommt, dass mir meine Frau dabei enorm den Rücken stärkt. Auch sie ist sich über die Macht der Ich-Zeit bewusst und sie braucht sie ebenso. Sie gibt mir den Raum, den ich brauche, um ganz bei mir zu sein, um daraus Kraft zu schöpfen. Für seine Lieben kann man nur mit ganzer Kraft da sein, wenn man sie regelmäßig wieder auftankt. Erst, seit ich das für mich wiederentdeckt habe, geht es mir rundherum gut. Dazu kommt das Glück, eine Ehefrau zu haben, die das nicht nur mitträgt, sondern auch für sich diese Freiräume braucht. Wenn man Augen und Ohren offen hält, bekommt man in seinem Umfeld mit, wie viele sich dieser Kraft nicht bewusst sind. Da sind Menschen, die der Ansicht sind, dass man in einer Partnerschaft 24/7 zusammen sein muss. Freiraum für den anderen darf es nicht geben. Dann wundern sie sich irgendwann, dass die Spannungen in Beziehungen und Ehen mehr werden und die Energie eines jeden Partner schwindet. Am Ende steht dann in 9 von 10 Fällen der Burn-out oder sogar schlimmeres. Man kann eine Menge tun, dass es gar nicht erst so weit kommt, auf Medikamente, Therapien und Ärzte zurückgreifen zu müssen. Lerne nein zu sagen. Am Anfang ist das schwer und aller Wahrscheinlichkeit nach, werden einige in deinem Umfeld geschockt sein. Aber es soll dir wieder besser gehen. Nur das zählt. Wenn sich nach einem Nein jemand von dir abwendet, dann weißt du, worauf die Nähe beruhte. Du setzt Grenzen, wodurch du Freiraum für dich gewinnst. Wenn du nun die Ich-Zeit konsequent umsetzt, hast nicht nur du unbeschreiblich viel davon, sondern auch die Menschen, die du liebst. Sei es dir selbst wert!
Fröhlichst
dein André
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